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  • Wolfgang Fobo

Lippenbekenntnisse

Über die Sinnlosigkeiten, welche man ertragen muss,

Oder

Wie die Diktatur den Charakter des Menschen verbiegt

Das System hatte mal wieder gerufen, sehr kurzfristig überdies, und so musste ich in meiner Eigenschaft als Leiter unseres Werkes in China überstürzt nach Nanjing aufbrechen, gewissermaßen zur Gefahrenabwehr.

Alle 4 Jahre müssen sich die Verantwortlichen für Installation incl. Chef der Firma einer Sicherheitsschulung unterziehen, um über die Gefahren auf einer Baustelle unterrichtet zu werden. Ein Nichterscheinen bedeutet, dass wir keine Lizenz mehr erhalten zum Betreten von Baustellen, und dies würde für uns ein halbes Todesurteil bedeuten.

Wir waren über 100, genau auch wie vor 4 Jahren, und ich war der einzige Ausländer, auch genau wie vor 4 Jahren. Alle mussten zum Schluss eine schriftliche Prüfung ablegen, und weil ich vom gesamten Vortrag nichts verstand, war Winny dabei, unsere Sekretärin, welche für mich die Prüfung schrieb.

Eingangs eine strenge 30-minütige Zurechtweisung, dass wir ja nur alle aufpassen sollten, das Handy ausgeschaltet lassen sollten, und ja, wie wichtig überhaupt diese Unterweisung sei. Schon bei dieser Zurechtweisung spürte ich sehr deutlich den Wert des Einzelnen gegenüber der gesamten „höheren“ Organisation, und der muss so ziemlich genau um Null herum liegen. Der Typ zeigte mit Fingern auf uns, machte Drohgebärden, und wir Teilnehmer ließen das alles stoisch über uns ergehen.

Wenn man ehrlich ist, hat eine solche Veranstaltung durchaus einen Unterhaltungswert und bestätigt auch mal wieder, wie hier mit dem Menschen umgegangen wird. Eigentlich wäre für diese Erfahrung auch noch ein Eintrittsgeld gerechtfertigt, und wäre für Führungskräfte hilfreich zur Standortbestimmung.

Auch während der Disziplinator vorne seine Show abzog, kamen noch verspätete Teilnehmer, er führte sich auf, den Teilnehmern war es wurscht.

Als dann nach ca. 30 Minuten die Schulung in Disziplin vorüber war und dann ein Lehrer von der Technischen Universität in Nanjing vortrug, änderte sich die Stimmung zum fast zu Gelassenen.

Ein paar waren tatsächlich aufmerksam, andere telefonierten, ständig klingelte irgendwo ein Handy. Mit fortgeschrittener Zeit fingen die Leute an du schlafen, der Typ hinter mehr gähnte immer lauter in immer kürzeren Abständen. Einer fing an zu rauchen. Zeitungen kursierten, und selbst während seines Vortrages fing der Lehrer an, an seinem Handy herumzufingern, vorübergehend war er ruhig, weil er eine SMS abschicken wollte.

Der Vortrag selbst, mit Powerpoint gehalten, war reiner Text, auch für Chinesen todlangweilig, und der Vortrag war dem Lehrer wohl egal, er hatte eben nur sein Ding zu machen.

Mit der Zeit fing ich dann an, mich mit Winny zu unterhalten, um diesem Phänomen des „jeder macht was er will“ etwas mehr auf die Spur zu kommen.

„This is China“, sagte Winny, und ich war erstaunt, dass sogar die Chinesen diesen Ausdruck hernehmen, wenn man nur noch mit den Achseln zucken kann. Während ihrer Zeit an der Uni sei das auch so gewesen, sinnlose Vorträge, aber Anwesenheitspflicht.

Solche Belehrungen erleben die Chinesen überall, und sie haben gelernt, mit solchen sinnlosen Pflichtveranstaltungen umzugehen.

Die Starken müssen die Vorgaben von oben erfüllen, und diejenigen weiter unten erziehen und belehren. Jeder weiß, dass dies vergebene Liebesmüh ist, Die Oberen lassen den Unteren wohl einige Freiheiten, unter der Bedingung, dass diese das System nicht in Frage stellen, kurzum, also nicht aufbegehren. Es ist alles ein abgekartetes Spiel. Jeder kennt die Regeln, oben tut die Pflicht “als ob“, und unten lässt eine solche Veranstaltung regungslos über sich ergehen.

Auf uns übertragen heißt dies, dass man bei der schriftlichen Prüfung die Antworten aus dem Lehrbuch abschreiben kann, man weiß auch, wo die Antworten stehen. So wahrt der Lehrende sein Gesicht, kann Erfolg vermelden, und die Unteren haben mit ihrer Teilnahme auch ihre Demutsbekundung abgegeben.

Einige hinter mir meinten, ich sei Pakistani. Weil meine handschriftlichen Aufzeichnungen meiner Beobachtungen wohl wie ein Gekritzel wirken, und so ein Typ könne nur aus Pakistan kommen. Ich legte daraufhin Wert auf die Feststellung, ich sei kein Taliban. (Wohl war ich aber als einziger Ausländer ein Sicherheitsrisiko).

Zum Schluss hatte der Vortragende dann doch einige Schadensbilder gezeigt, so dass man den Eindruck gewinnen konnte, Schäden gebe aus auf jeder Baustelle in China. Und ich kann auch sehr gut nachvollziehen, dass ein solches Sicherheitstraining in China wirklich notwendig ist. (Dass die Baustellen recht unsicher sind, kann ich nur bestätigen, denn ich bin schon auf mancher wackeligen Hühnerleiter herum geklettert, wobei Todesverachtung durchaus hilfreich ist).

Gut gemeinte Absichten laufen so systembedingt ins Leere, da steckt kein wirkliches Interesse an der Sache dahinter, sondern nur ein Ritual der Macht und der Machtlosen.

Winny, welche für mich die Prüfung schrieb (genauer gesagt, vom Lehrbuch die richtigen Lösungen auf das Prüfungsblatt übertrug, und das auch noch vollkommen offen), meinte zu der gesamten Veranstaltung, das sei ihr so wohlbekannt. Von den Studenten würde auch nicht gefragt, ob sie ihren Stoff beherrschten, sondern nur, wie genau sie den Lernstoff wiedergeben können.

Und weil das System so ist, wie es ist, wissen die Chinesen sehr gut zwischen offizieller Welt und realer Welt zu unterscheiden. Die Lippenbekenntnisse sind für das System, und in Wirklichkeit wird anders gedacht und gefühlt. Das mag uns stören oder verstören, vor allem, wenn wir nur eine Welt kennen und die Fassade womöglich für echt halten. Um die beiden Welten voneinander trennen zu können, muss man in gewisser Tiefe eintauchen können. Und ist man dann drin, und arrangiert sich damit, bekommt man Probleme zuhause. Denn es ist meiner Glaubwürdigkeit oder Seriosität nicht zuträglich, wenn ich mich von „Deutschland-außen“ betrachtet merkwürdig verhalte, um den Chinesen auf ihrem endlosen Schlingerkurs zwischen den Welten auf den Fersen zu bleiben.

Übrigens, am Ruhigsten war es dann während der Prüfung. Alle waren damit beschäftigt, die Musterlösung abzuschreiben. Immerhin, mein Reisepass wurde streng kontrolliert – hätte ja auch jeder kommen können. Nach 20 Minuten hatte Winny ihren Job erledigt, ich musste mein Lösungsblatt dann persönlich nach vorne bringen, und tschüs. In ca. 3 Wochen werden wir offiziell über das Ergebnis unterrichtet, wir bekommen die Lizenzerneuerung für die Fertigung, und ich habe 2 Tage verplempert und ein paar Tausend Euro. Für die Sache. Tiefe Verbeugung, ihr hohen Götter. Das Leben muss schließlich weitergehen.

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